Mikronährstoffe – Braucht kein Mensch oder unverzichtbar für Gesundheit?

Diana Polekhina auf Unsplash

Sie sind kaum sichtbar und dennoch überall beteiligt: Mikronährstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente tragen zum reibungslosen Ablauf zahlloser Stoffwechselvorgänge bei oder können unser System vor Herausforderungen stellen, wenn sie nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Sie bewirken zwar keine unmittelbaren Wunder, aber ihre Abwesenheit kann sich sehr deutlich zeigen – in vielfältigen Symptomen, die jedoch ohne spezifische Messungen nur schwer eindeutig dem jeweiligen Nährstoff zuzuordnen sind. Dennoch gibt es unterschiedliche Perspektiven auf die Bedeutung von Mikronährstoffen in Therapie, Diagnostik und für die Gesundheit. Das wirft die Frage auf, wie diese unterschiedlichen Sichtweisen zustande kommen.

Diese Frage werden wir natürlich nicht gänzlich in diesem Artikel klären können, dennoch möchte ich Hinweise geben, warum wir in der Praxis Mikronährstoffe für essenziell halten und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse dies unterstützen.

Warum brauchen wir sie?

Wer sich schon einmal ein wenig mit Biochemie auseinandergesetzt hat, weiß, dass Hormone, Enzyme, unsere Zellen und unsere Neurotransmitter – alles ist aus bestimmten Bausteinen aufgebaut. Häufig benötigen Stoffwechselreaktionen sogenannte Co-Faktoren. Auch Rezeptoren können Co-Faktoren benötigen, um optimal funktionsfähig zu sein. Die Qualität und die Zusammensetzung unserer Fette bestimmen beispielsweise, wie unsere Zellmembranen aufgebaut sind. Transportiert das Immunsystem entzündungsregulierende Omega-3-Fettsäuren zum Wundgebiet, oder stehen ihm vorwiegend Omega-6-Fettsäuren zur Verfügung, die unter Umständen entzündungsfördernd wirken können? Es geht letztlich immer um die richtigen Bausteine. Ein anschauliches Beispiel ist: Wenn Sie einen Tisch bei IKEA kaufen und es fehlt nur eines der vier Beine, ist der Tisch nicht funktionsfähig. Ähnlich verhält es sich im Körper: Auch wenn nur ein Faktor in einer komplexen Stoffwechselkaskade fehlt, kann diese nicht adäquat ausgeführt oder abgeschlossen werden. Wenn dies häufig und über eine lange Zeit geschieht, kann dies die Entstehung von gesundheitlichen Herausforderungen begünstigen.

Ein paar Beispiele:

  • Für die Energieproduktion sorgen B-Vitamine, Magnesium und Eisen, die unsere zellulären "Kraftwerke" am Laufen halten.

  • Für das Immunsystem spielen Vitamin D, Zink und Selen eine zentrale Rolle, während Omega-3-Fettsäuren helfen, Entzündungsreaktionen im Gleichgewicht zu halten.

  • Für Entgiftungsprozesse und den Zellschutz benötigt unser Körper Vitamin C, E, Zink und Selen, die helfen, schädliche Stoffe zu neutralisieren und die Zellen zu schützen.

  • Für die Bildung von Hormonen und Neurotransmittern sind Mikronährstoffe wie Jod, Selen, B-Vitamine und Magnesium unverzichtbar.

Warum fehlen uns Mikronährstoffe – und das immer öfter?

Die Gründe hierfür sind vielschichtig. In unserer Umwelt sind wir vermehrt verschiedenen Belastungen ausgesetzt: Toxine, Rückstände von Pflanzenschutzmitteln, Mikroplastik, Luftverschmutzung und Chemikalien. Die Böden sind vielerorts durch intensive Landwirtschaft weniger nährstoffreich, und Obst sowie Gemüse legen oft lange Transportwege zurück. Häufig werden sie geerntet, bevor sie ihre volle Reife und Nährstoffdichte erreichen können. Unsere Ernährung ist zudem oft geprägt von hochverarbeiteten, kalorienreichen Nahrungsmitteln, die arm an nährstoffreichen, natürlichen Lebensmitteln sind.

Ein bekannter Ausspruch lautet: “Wir verhungern im Überfluss”.

Hinzu kommt bei vielen Menschen eine Veränderung der Darmflora, wodurch möglicherweise die Aufnahme der Nährstoffe, die es tatsächlich in unser System schaffen, beeinträchtigt wird. Dort werden sie aber häufig noch stärker gebraucht als ursprünglich vorgesehen, da es mehr Belastungen gibt: Aktivität des Immunsystems, Regenerationsprozesse, Stress, Umweltgifte, Rauchen, Alkoholkonsum und chronische Erkrankungen. All diese Faktoren – und auch physiologische Umstände wie Schwangerschaft oder Leistungssport – erhöhen den Bedarf an Nährstoffen, Vitaminen und Mineralstoffen. Wenn man den Körper als Ganzes betrachten möchte, kann man diese Komponente nicht außer Acht lassen.

Warum der Arzt manchmal nicht der alleinige Ansprechpartner ist

Die Schulmedizin hat oft einen anderen, wichtigen Fokus. Sie leistet wertvolle Arbeit und ist in vielen Bereichen unersetzlich – ergänzen kann man sie jedoch. Themen wie Ernährung, Mikronährstoffe und Lebensstil finden im Medizinstudium möglicherweise nicht immer den Raum, den sie für eine umfassende Betrachtung benötigen. Selbst Fachgesellschaften wie die Gesellschaft für Ernährungsmedizin weisen darauf hin, dass angehende Ärztinnen und Ärzte sich Wissen in diesen Bereichen oft eigenständig aneignen.

Die Rahmenbedingungen im Gesundheitssystem, einschließlich der Strukturen in der Gebührenordnung und im Vergütungssystem, können es niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten erschweren, ausreichend Zeit und diagnostische Mittel für eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Aspekten aufzuwenden. Der Praxisalltag ist oft von hohem Patientenaufkommen und Zeitknappheit geprägt.

Ich denke, hier besteht eine Chance zur Zusammenarbeit: Die klassische Schulmedizin und Ansätze wie die funktionelle Medizin, Praxen für Gesundheit und Prävention sowie Ernährungs- und Darmexperten können sich vernetzen und in den Austausch kommen, um gemeinsam bestmöglich für die Patientinnen und Patienten da zu sein. Jeder medizinische Ansatz hat seine Stärken. Während eine Praxis mit Fokus auf funktionelle Medizin nicht die erste Wahl bei akuten Notfällen wie einem schweren Unfall ist, so kann ein auf Notfallmedizin spezialisierter Chirurg möglicherweise nicht die primäre Anlaufstelle für komplexe chronische Beschwerden sein, die mit der Darmgesundheit oder dem Mikronährstoffhaushalt zusammenhängen.

Wir haben es nicht erfunden - Es gibt klare wissenschaftliche Hinweise

Eine umfassende Analyse der Harvard University (2024) verdeutlichte einmal wieder die Tragweite des Themas: Weltweit leidet mehr als die Hälfte der Menschen an mindestens einem Mikronährstoffmangel. Besonders kritisch sind die Versorgungslücken bei Vitamin D, Eisen und Jod. Selbst in wohlhabenden Ländern wie Deutschland oder den USA sind Mängel verbreitet – ein Zustand, den Experten als „versteckten Hunger“ bezeichnen. Dies betrifft häufig Menschen, die gleichzeitig übergewichtig und mangelernährt sind, da die Kalorienzufuhr zwar hoch, die Nährstoffdichte jedoch gering ist.

Studien gibt es zahlreiche, sowohl zu Risiken von Unterversorgungen als auch zur tatsächlichen Versorgungslage der Bevölkerung. Vitamin-D-Mängel sind beispielsweise weitaus häufiger als eine gute Versorgung. Beim Omega-3-Index zeigen viele Menschen, die sich nicht aktiv mit ihrer eigenen Gesundheit und Ernährung auseinandersetzen, einen Mangel an Omega-3-Fettsäuren. Allein diese beiden Nährstoffe sind für den Körper essenziell in der Regulation des Immunsystems und unabdingbar für eine angemessene Beendigung einer Entzündungsreaktion.

Angesichts der Bedeutung von chronischen, stillen Entzündungen für viele Krankheitsbilder, ist es bedauerlich, dass die Diskussion um Mikronährstoffe manchmal von pauschalen Aussagen wie “Das braucht doch kein Mensch” oder “Spenden Sie lieber ihr Geld, bevor sie es in so eine Diagnostik setzen” überschattet wird. Auch Formulierungen wie “Supplemente sind einfach nur teurer Urin” oder “unsere Darmflora ist unveränderbar” gehören zu den oft gehörten Verallgemeinerungen. Solche Aussagen werden der Komplexität des Themas oft nicht gerecht und können eine differenzierte Betrachtung erschweren. Die Forschung zeigt seit Jahrzehnten klar: Unser Körper benötigt diese Bausteine, und es besteht oft ein Ungleichgewicht bei der Zufuhr der richtigen Nährstoffe.

Nahrungsergänzungsmittel: sinnvoll oder überschätzt?

Gezielt eingesetzte Nahrungsergänzungsmittel können durchaus einen gesundheitlichen Nutzen bringen. So zeigten etliche Studien, dass beispielsweise Senioren nach dreimonatiger Einnahme von Multivitaminpräparaten ein verbessertes allgemeines Wohlbefinden berichten. Therapeutische Interventionen mit B-Vitaminen können den Homocysteinspiegel senken, der als unabhängiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen gilt. Probiotika können nachweislich CRP-Werte und pro-entzündliche Botenstoffe des Immunsystems senken. Eine Omega-3-Supplementation verbessert die Versorgung mit Omega-3-Fettsäuren und kann somit das Verhältnis von Omega-3 zu Omega-6-Fettsäuren positiv beeinflussen, was mit besserer Hirngesundheit, Zellgesundheit, Gefäßgesundheit und einem ausgewogenen Entzündungsmanagement in Verbindung gebracht wird.

Natürlich ersetzen Nahrungsergänzungsmittel keine ausgewogene Ernährung, sondern dienen vielmehr dazu, bestehende Lücken gezielt zu schließen oder therapeutisch ein angepasstes Angebot zu schaffen, um bestimmte Stoffwechselprozesse zu unterstützen. Aber natürlich gilt:

“Lifestyle over Supplements - Always”

Limitationen herkömmlicher Diagnostik

In der Diagnostik werden Mikronährstoffe häufig im Blutserum gemessen. Diese Messungen können wertvolle Hinweise geben, spiegeln aber nicht immer den gesamten Versorgungsstatus wider, was manchmal zu der Annahme führen kann, dass eine ausreichende Versorgung gegeben ist. Bei einigen Nährstoffen ist die Serumkonzentration jedoch weniger aussagekräftig für den zellulären Status als eine intrazelluläre Messung. Tatsächlich liegen viele wichtige Nährstoffe wie Magnesium oder Zink vorwiegend intrazellulär vor – Magnesium zu etwa 70% in der Zelle, Zink sogar bis zu 90%. Serumwerte liefern daher nur ein eingeschränktes Bild und bleiben oft noch länger im Normbereich, während intrazellulär bereits ein Mangel vorliegen kann. Intrazelluläre Messungen werden in der Routinediagnostik seltener eingesetzt.

Fazit

Mikronährstoffe mögen unscheinbar sein, doch ihre Rolle für Gesundheit und Lebensqualität ist beachtlich. Wissenschaftliche Studien betonen zunehmend die Relevanz einer ausreichenden Versorgung – nicht nur zur Vermeidung offener Mängel, sondern vor allem für langfristige, funktionelle Gesundheit. Es lohnt sich daher, diesen kleinen Substanzen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienen.

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